Kinderbildnisse

Einführung zu den Bildern von Dr. Rainer Beßling, Kulturjournalist.

Kodak Color
Ursula Barwitzkis Kinderbildnisse

Beim Aufräumen stößt Ursula Barwitzki auf eine Schachtel mit alten Farb-­Negativen. Fotografien aus dem Familienleben: sie selbst im Spiel mit ihrem Sohn, ihrem Patenkind, Kinder aus der Nachbarschaft, im Haus, im Garten, auf der Straße. Klassische Momentaufnahmen, die Kinder- und Familienzeit dokumentieren und Erinnerungen bewahren sollen. Augenblicke sind festgehalten und werden Zeugnisse des Vergehens, Spuren des Vergangenen. Die Negative tragen Male der Zeit. Sie selbst sind ein historisches Medium, längst verfärbt. Die Wirklichkeit in den Bildern ist vertraut und erscheint doch merkwürdig fremd. Die Umkehr von hell und dunkel schafft neue Welten. Die Farben, die Verfärbung, das Format, die Figuren bilden ein überstrahltes, spukhaftes Schemenreich.
Die Fundstücke fesseln Ursula Barwitzki. Es mag an der Begegnung mit ihrer eigenen Geschichte liegen, mit ihrer einstigen Mutterrolle. Dann die Wiederbegegnung mit dem Kind, besetzt mit Gedanken an diese Zeit des Aufbruchs, der Wünsche und Möglichkeiten, Hoffnungen und Ziele, aber auch der damaligen alltäglichen Herausforderungen und Notwendigkeiten. Sicherlich auch der Ängste. Welch ein Bild des Kindes und der Familie zeichnen die Aufnahmen? Entsprechen sie Erwartungen und Erinnerungen? Zeigen sie die Natürlichkeit, die Lebendigkeit, die Ursprünglichkeit und die Unschuld des Kindes, die von solchen Fotografien für gewöhnlich erwünscht werden? Oder drücken sich in ihnen die Projektionen und Erwartungen des Erwachsenen aus? Wie schaut die Künstlerin jetzt darauf? Findet sie sich darin wieder? Ist da Abstand oder Nähe? Welche Gefühle lösen die Bilder aus? Nostalgie, Wehmut, Freude? Bietet sich eine Bilanz an?
Die Negative haben die Mutter, aber auch die Malerin in Ursula Barwitzki berührt. Sie zeigen eine Welt in Umkehrung, eine bekannte Welt in einem anderen Licht, mit einem ambivalenten Klima von Klärung und Unschärfe. Nicht nur eine historische Patina prägt die Bilder, sondern an erster Stelle eine den Blick herausfordernde Farbigkeit. Licht und Schatten tauschen die Rollen. Konturen streuen, das Kolorit wirkt irritierend im unruhigen Ensemble der Komplementärfarben. Die Künstlerin fühlt sich von der Buntheit und der Formensprache der Negative angezogen, entdeckt deren besondere Bildwürdigkeit, sieht sich zur Auseinandersetzung aufgerufen. Sie beschließt, die Funde in Malerei umsetzen und kehrt damit zu ihren figurativen Anfängen zurück. Sicher kein Zufall, dass in dieser Auseinandersetzung mit Fundstücken aus der Familiengeschichte die frühere Bildsprache und das einstige Muttersein im Wechselspiel aufgerufen und reflektiert werden.
Trotz des Wissens über das konstruktive und kompositorische Wesen der Fotografie wird dem Foto für gewöhnlich weiterhin ein dokumentarischer Wert, eine zeugnishafte Beglaubigung der Wirklichkeit zugeschrieben. In den Negativen aber schiebt sich das Medium zwischen Realität und Bild. Eine Zwischenwelt ist aufgeblendet, eine Transformation geschieht, in der sich Augen in helle Kreise verwandeln, denen kein individueller Ausdruck mehr abzulesen ist, in der Gesichter zu planen, lichten Flächen werden, denen die Physiognomie fehlt, in der sich das Ambiente der Protagonisten zu merkwürdig ortlosen Räumen, planen Flächen und erstarrten Linien zusammenzieht. Eine eigene von der Sichtbarkeit des Alltags abstrahierende Bildwelt stellt sich ein. Eine Welt mit einer eigenen Sprache und einer artifiziellen Präsenz, die sich bei aller Plakativität in sich selbst zurücknimmt. Offenbart sich darin mit konkreter Unschärfe sonst Verborgenes?
Ursula Barwitzki schließt an die Verwandlungen an, die sich in der Parallelwelt der Negative einstellen. Sie überträgt die Farbigkeit in malerische Entsprechungen, die im großen Format eine eigentümliche Unwirklichkeit erzeugen. Man sieht den Werken die Praxis der Malerin in der Abstraktion an. Die Flächen sind in monochromen Bezirken ausbalanciert, die Linien geklärt, Hell-Dunkel-Modellierungen bewegen die Formen, in unscharfen Farbverläufen und -schichtungen bildet sich ein untergründiger Puls. Die Figuren selbst werden zu Trägern von malerisch-­plastischen Ereignissen. Die Hautfarben sind in bläulich graue Töne umgeschlagen, die dem Körper eine starre, unorganische Festigkeit verleihen. Die Einebnung ins Flächige und die grafische Zuspitzung der Linien sind in der malerischen Umsetzung verstärkt. Es herrscht eine fast gespenstische Ruhe. Das Leben scheint für den Augenblick seiner Bildwerdung angehalten. Regung und Bewegung sind eingefroren. Die Blicke aus diesen Gesichtern erscheinen bohrend fest, die Mienen wirken maskenhaft. Eine nicht greifbare surreale Atmosphäre bestimmt die Bildräume.
Ein Junge sitzt auf einem Hocker oder einer Kiste, er hält über den Oberschenkeln einen Stock in den Händen und schaut in die Kamera. Das Licht, das von ihm auszugehen scheint, überstrahlt jeglichen Anflug von Ausdruck. Das Gesicht ist mehr zeichenhaftes Antlitz, die Augen öffnen sich wie Höhleneingänge und geben doch nichts preis. Hinter dem Jungen stehen Sträucher. Er tritt in diesem Gartenraum eher distanziert und isoliert auf. Stämme, Äste und Laub wirken ornamental stilisiert und genügen sich selbst. Das ganze Ensemble trägt den Charakter einer Cartoonwelt, in der sich Abstraktion und Figuration, Flächigkeit und Körperlichkeit durchdringen.
In einem anderen Bild ist ein Kind mitten ins Zentrum gesetzt. Die Kamera hat es in einer leichten Aufsicht eingefangen. Die Malerin nimmt die Komposition der Fotografie auf und steigert ihre Wirkung zu der Pose eines ganz in sich ruhenden und doch intensiv mit seiner Umwelt korrespondierenden Jungen. Arme und Unterkörper sind angeschnitten, so drängt die Darstellung über das Format ­hinaus. Die Arme bilden eine Diagonale, die quer durch das Bild verläuft und diesem Dynamik verleiht. So stellt sich der Eindruck einer kreisenden Bewegung ein. Die Falten der Kleidung und die Lage der Haare schreiben an dieser Drehung mit. In einem weiteren Bild reckt die am Boden sitzende Mutter das Kind in die Höhe, eine vertraute Bewegung, mit der Eltern ihre Kinder erfreuen. In dem flächigen, matt­farbigen Interieur von Ursula Barwitzkis Malerei wirkt dieses Geschehen merkwürdig blutleer, eher wie eine formale Handlung. Die Darstellung wirft Fragen auf, für wen dieses Zusammenspiel welche Wirkung hat, was in den Protagonisten vorgeht. Das Bild lässt hinter den Vorhang von Konventionen blicken, enthält sich selbst aber jeglicher Kommentare.
Und dann sind da einige Bilder von Kindern, einzeln oder in Gruppen, die der Kamera entgegenblicken. Ein Junge ist in der Seitenansicht festgehalten und dreht den Kopf zum Betrachter. Seine überstrahlten Augen lassen keine Regung erkennen, wir bekommen keinen Blick zurück. Es könnte sein, dass sich das Kind ertappt fühlt, gestört, vielleicht ist es verärgert über die Zudringlichkeit der Kamera. Ein anderes Bild zeigt ein Kind in seinem Bett, die Beine baumeln zwischen den Stäben heraus. Die Mutter neckt das Kind mit ihrem Fuß, eine animierende, herausfordernde Geste, eine Regung des Kindes ist nicht zu erkennen. Seine eigene Welt korrespondiert auf spannungsvolle Weise mit der Umwelt. Es erscheint in ihr gefangen und geschützt. Geisterhaft treten zwei Kinder in einem weiteren Bild auf, sie blicken mit einer Mischung aus Trotz und Missmut in die Kamera. Ihre Körper sind in ein Zusammenspiel von Licht und Schatten getaucht, nahezu transparent und doch undurchsichtig in einer traumnahen Dämmerung. Die Kinder tragen ernste Gesichter, scheinen dem Betrachter entgegen zu treten und sperren sich zugleich ab, als wollten sie sich gegen jede Offenbarung und Entschlüsselung, gegen jede Zumutung und Zurichtung durch die Perspektive und Projektionen der Erwachsenen stemmen. Licht und Schatten als Schein und Schleier legen sich in ungewohnter Form auf die Figuren und lassen die Räume in einer schwer greifbaren Kühle und Distanz erscheinen. Die Protagonisten treten isoliert an leeren Orten wie vor bühnenhaften Staffagen auf, vereinzelt, auf sich selbst bezogen und geworfen, wie vom Umraum getrennt und aus ihren Zusammenhängen gefallen. Familiäre Umgebung und liebevolle Gesten wenden sich zu starrer Kulisse und formalen Akten.
Die Kinder treten in diesen Bildnissen in einer ganz auf den Augenblick gespannten Aufmerksamkeit und einem intensiven Eigenwillen auf. In den Bildern realisiert sich die Vorstellung vom Kind als einer vollkommen auf spontane Bedürfnisbefriedigung gerichteten Person. Kinder treten in ihrer offenen Zuwendung als soziales Wesen auf und sprechen dabei doch ganz unmittelbar für sich. Die sichtbaren Affekte wirken authentisch und offensiv. Hier agieren in ihren jeweiligen Entwicklungsstadien komplette Wesen in einer eigenen Welt, die sich an der der Erwachsenen meist untergründig, aber dafür umso grundsätzlicher reibt. In dieser Kinderwelt herrscht ein voraussetzungsloser Zugang und Zugriff auf die Welt, noch dominieren weder Erfahrung und nur bedingt Erziehung, noch lenkt nicht vorrangig kulturelle Konvention Blick und Verhalten. Noch ist die Sprache nicht in feste und ordnende Strukturen gegossen, die einzelnen Elemente sprechen und werden benannt. Eng sind Ding, Wort und Bild miteinander verschweißt. Abstraktionen in einer formelhaften Begriffswelt sind noch weit entfernt. Im Blick auf diese vergangene Kinderwelt erinnert sich auch der Erwachsene seiner Ursprünge und mag dabei manchen Verlust an unmittelbarer Erfahrung und lautliche wie auch grafische Bezeichnung empfinden. Künstler suchen nicht zufällig Anschlüsse an diese von Wahrnehmung satte Ursprünglichkeit.
Die Familienfotos, die Ursula Barwitzki zufällig gefunden und in eine ebenso ausdrucksstarke wie formal und farblich reizvolle Malerei übertragen hat, dürften bei ihr keine einfache Begegnung mit der Vergangenheit ausgelöst haben. Wie sie sich darstellen in ihrem Zwischenzustand und in ihrer Umkehrung verfremden sie die äußere Wirklichkeit zu einer neuen, höchstambivalenten Sichtbarkeit. Sie reichen an Urgründe und Abgründe und schaffen dem Rätselhaften Raum. Das Erinnern selbst, aber auch die Ablagerung der Erinnerungsstücke in einem individuellen Archiv werden Gegenstand der Betrachtung.
Das fotografische Material gleicht unserem Gedächtnis, in dem physische und chemische Prozesse Veränderungen und Verschiebungen auslösen. Die Ereignisse haben nicht als abgebuchter, eingeordneter und durchgearbeiteter Erfahrungsfundus feste Gestalt und Gebrauchswert für künftiges Handeln angenommen. Vielmehr vagabundieren sie, von wechselnden aktuellen Impulsen belebt, durch einen offenbar unendlichen Speicherraum, durch eine schwebende, schillernde Cloud als Parallelspur unserer Lebensführung und unseres wandelbaren und wandelnden Selbst. In schemenhaften Relikten, verblassenden Gebärden und verloschenen Gewohnheiten stellt sich Erinnerung auch als Chronik des Vergessens und des Vergessenen dar, als eine Chronik allerdings, die sich in unser bild- und sprachloses Körpergedächtnis zwischen Schmerzquelle und Glücksbrunnen eingeritzt, eingekerbt und eingelagert hat.
Ursula Barwitzkis Projekt thematisiert fotografische Zugriffe auf die Wirklichkeit, indem sie das Mediale in den Fokus rückt und die Gedanken und Empfindungen der Fotografen und Fotografierten zur Debatte stellt. Sie lässt das Eigenleben des Materials mitsprechen, stellt das Transitorische, den Zwischen– und Schwellenzustand des Negativs auf Dauer. Damit hält sie das Bild offen, überträgt die Entwicklung nicht zuletzt auf den Betrachter. Sie praktiziert den Anschluss der Malerei an die Fotografie, dockt dabei aber gezielt an das Malerische und Grafische des Lichtbilds an. Sie exponiert die Stärken des Malerei in ihrer Präsenz, ihren taktilen Reizen, ihrer Stofflichkeit, ihrem artifiziellen Charakter, der den Betrachter in eine andere Welt mitnimmt, in der gewohnte Dinge befreit von Begrifflichkeit auf sinnlicher Ebene neu verhandelt werden können. Die Malerin macht die umgekehrten Lichtverhältnisse zum bildnerischen Konzept. Die so generierten Figuren stellen das Kinderbildnis und das Bild des Kindes zur Disposition. Sie exponiert das Fremde und Andere und bündelt mit ihren daran anschließenden Verfremdungen Aufmerksamkeit.
Fast gespenstisch in den bürgerlichen Kulissen auftretend, scheinen die Protagonisten etwas Monströses zu offenbaren, das mit unseren Vorstellungen nicht übereinstimmen will: Hülle und Nachhall und doch von bedrängender Präsenz. Was sehen wir im Kind? Das unschuldige und ursprüngliche Wesen, dem wir all das zuschreiben, was die Sozialisation an heller Natürlichkeit bei uns ausgelöscht hat und das wir in eine bessere Zukunft projizieren? Oder ist das Kind schon das komplette Wesen, in dem alle Facetten des menschlichen Seins angelegt sind und das notwendig der Erziehung bedarf, damit sich die positiven Anlagen ausbilden? Ist im Kind nicht auch das Abgründige angelegt? Spiegelt sich in der Natur des Kindes nicht auch die Natur selbst mit ihren Polen Schönheit und Schrecken?
Nicht zuletzt identifizieren oder besser erahnen wir Erwachsenen angesichts solcher Bildnisse auch das Kind in uns selbst, das radikal Andere, das sich verbirgt und doch wirkt, das unsere Normen und Verhaltensmuster begleitet und befragt, wie mit großen bohrenden Augen, wie eine parallele Kultur, in der mit spielerischer Unmittelbarkeit neue Bedeutungen geschaffen werden. Die Kinder in Ursula ­Barwitzkis Malerei tragen das Geheimnis der Kindheit und ihre eigenen individuellen Rätsel in sich. Wollte die Fotografie sie in einer charakteristischen Pose und Haltung festhalten und für uns greifbar machen,stellt die Malerei sie ins Zwielicht und fördert vor allem Irritation, die unsere Betrachtung beflügelt. Der Malerin wird in ihrer Arbeit viel Reibungspotenzial entgegengetreten sein. Ihre Bilder tragen die daran entfachte Energie in sich.

 

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